Vortrag an der Jahrestagung der
Gesellschaft für Medienwissenschaft
„Spekulation“
Frankfurt am Main, 4. Oktober 2012
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Feststellung, dass der gegenwärtige Gebrauch des Wortes digital in aller Regel unkritisch und unreflektiert ist – nicht nur im Alltag, sondern auch in der Wissenschaft.
Das Wort digital hat sich in der relativ kurzen Zeitspanne, in der es sich im öffentlichen Sprachgebrauch befindet (seit Beginn der 1990er Jahre ungefähr), abgenutzt und ist zu einer bloßen Hülse verkommen. Der Ausdruck wird u. a. in der Presse, aber auch im wissenschaftlichen Kontext andauernd und mit großer Selbstverständlichkeit verwendet – also ohne, dass er noch einer weiteren Erklärung bedürfte, aber, wie mir scheint, eben auch ohne, dass er selbst noch etwas erklären würde. Mit digital bezeichnet man in der Regel einfach alles, was irgendwie mit Computertechnik zu tun hat; oder noch weiter gefasst: alles, was hochtechnologisch und neu ist oder wenigstens neu sein soll.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die seit einiger Zeit anschwellende Rede von den Digital Humanities. In den USA vor allem, wo die Geistes- und Kulturwissenschaften einem ungeheuren politisch-ökonomischen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind und viele universitäre Studiengänge eingestellt und ganze Departments geschlossen werden, geht nichts mehr ohne sie. Keine Universität, die nicht – um am Puls der Zeit zu bleiben und die öffentlichen wie privaten Geldgeber bei Laune zu halten – ein Programm für Digital Humanities aufgebaut hat oder daran ist; kein Job Interview, bei dem man nicht nach seinen Kompetenzen und Erfahrungen in diesem Bereich gefragt wird. Und eben erst hat sich auch der deutsche Historikertag „einmütig für die Förderung der Digital Humanities ausgesprochen“ (Pressemitteilung vom 01.10.2012) und eine Arbeitsgruppe Digitale Geschichtswissenschaft gegründet. Wer die Debatte mitverfolgt, erkennt indes schnell, dass einigermaßen unklar bleibt, was ‚Digital Humanities‘ eigentlich heißen soll. Beinahe das Einzige, in dem sich alle einig sind, ist, dass es dabei um Computer geht und die Tatsache, dass auch GeisteswissenschaftlerInnen jetzt mit Computern arbeiten und dies künftig noch mehr tun sollen und ihre Arbeitsmethoden deshalb irgendwie ‚digital‘ sind. (Und leider erschöpft sich die Originalität und Relevanz der Digital Humanities-Debatte zumeist in dieser Feststellung.)
Wer heute also digital sagt, der weiß, dass er bei seinem Gegenüber mit einem gefestigten, wenn auch vagen Vorverständnis der Sache rechnen darf und sich nicht erklären muss, was die genauere Bedeutung des Ausdrucks anbelangt. Ich möchte dagegen vorschlagen, den festgefahrenen Gebrauch des Wortes digital in Frage zu stellen und den Begriff des Digitalen zu problematisieren. Denn ich denke, dass Digitalität (wie Medialität auch ein etwas sperriges Wort) in der Tat das große Problem der Medienwissenschaft darstellt – in zweifacher Weise: Zunächst ist Digitalität das Problem der Medienwissenschaft einfach insofern, als die unbestreitbare Neuartigkeit der elektronisch-digitalen Medien sie per se als Problemstellung angeht. Digitalität ist die Herausforderung einer Wissenschaft, die es zur Aufgabe hat, unsere ‚digitale Gegenwart‘ – die hochtechnologischen Environments, die uns umgeben und in denen wir uns bewegen – zu erklären. Medienwissenschaft soll den historischen Schnitt, den der elektronisch-digitale Medienverbund gegenüber älteren Medien macht, und seine kulturelle Bedeutsamkeit und Wirksamkeit verstehen helfen.
Der geschichtliche Bruch der ‚Neuen Medien‘ (wie man vor noch nicht allzu langer Zeit anstelle von ‚Digitalen Medien‘ zu sagen pflegte) markiert aber zugleich eine theoretische Herausforderung. Und das ist die andere Seite des Problems: Digitalität ist, so meine These, eines der am wenigsten bedachten und durchdachten Konzepte der Medienwissenschaft. Diese Aussage überrascht wahrscheinlich, sind die sogenannt digitalen Medien doch einer der wichtigsten Gegenstände unserer Forschung, ist der Ausdruck digital doch – wie gesagt – allgegenwärtig und taucht inflationär in Vorträgen, Texten und Lehrveranstaltungen auf und steht im Titel hunderter, wenn nicht tausender Publikationen (und auch einiger Professuren). Nur bedeutet Häufigkeit der Nennung nicht auch schon Klärung des Begriffs. Tatsächlich finde ich es frappierend, wie wenig sich die Medienwissenschaft bislang um eine eigenständige Bearbeitung und theoretische Reflexion dieses für unser Geschäft so wichtigen Konzepts bemüht hat. Ich möchte das nur kurz darstellen.
In der maßgeblichen Fachliteratur lassen sich, grob gesagt, drei Arten der Auseinandersetzung mit der Frage der Digitalität erkennen. Im ersten Fall wird das Verständnis davon, was digital heiße, einfach vorausgesetzt und, meist stillschweigend, angenommen, die Sache sei bekannt, unproblematisch oder bereits hinreichend geklärt. (Dieses Vorgehen findet sich insbesondere in neueren und neuesten Titeln, gerade auch der Basisliteratur. Die nächste Generation der Medienwissenschaft – diesen Eindruck hinterlassen viele Einführungs- und Überblickswerke – weiß im Grunde bereits, womit sie es beim ‚Digitalen‘ der Digitalmedien zu tun hat, und bedarf keiner weiteren Unterrichtung.) Im zweiten – wohl häufigsten – Fall werden je nach Fragestellung und Gegenstand der Untersuchung ad hoc-Bestimmungen des Begriffs gegeben, meist durch Verweis auf Grundsätze wie Diskontinuität, Arbitrarität, zahlenhafte Darstellung oder binäre Codierung. Solche Bestimmungen bleiben aber nicht selten knapp und angedeutet, und wo technische Sachverhalte zur Erläuterung herangezogen werden, sind sie mitunter gar falsch dargestellt. (Diese Art des Umgangs mit dem Thema ist von jeher beliebt und zieht sich durch die gesamte Fachliteratur.) Im dritten – und sicherlich instruktivsten – Fall rekurrieren die Darstellungen von Digitalität auf die informations- und nachrichtentechnischen Konzepte digitaler Codierung und ihre Entstehung aus der Mathematik und dem Rechnerbau. Es werden dann (nicht selten im gelangweilt-überheblichen bis leicht gereizten Tonfall der Eingeweihten und Besserwissenden) die Modelle und Definitionen digitaler Funktionsweise von Technik ausbuchstabiert, die auf Claude Shannon, Alan Turing oder John von Neumann zurückgehen. (Diese Variante dominiert u. a. die diskursanalytische und medienarchäologische Tradition unserer Disziplin.)
Dagegen ist eine im Fach selbst unternommene, sozusagen genuin medienwissenschaftliche Begriffsbildung kaum zu erkennen. Und das ist doch erstaunlich, gerade wenn man bedenkt, welche Rolle die Arbeit an zentralen Begriffen für die fachliche Konstitution und Identität anderer Disziplinen spielt (etwa mit den Begriffen Autor, Text oder Epoche für die Literaturwissenschaft, Gesellschaft, Handlung oder Norm für die Soziologie usw.), und mit wie viel Verve in der Medienwissenschaft zum Beispiel um und mit dem Begriff des Mediums bzw. der Medien gerungen wurde. Inzwischen machen wir es uns, so scheint mir, mit unserem überkommenen Vokabular leicht: Die Arbeit am Medienbegriff ist weitgehend in Misskredit geraten und eingestellt (viele sprechen jetzt lieber von ‚Kulturtechniken‘ oder ‚Akteuren‘), die an einem eigenen Digitalitätsbegriff wurde kaum je aufgenommen.
Man kann diese Auslassung an verschiedenen deutsch- und englischsprachigen Titeln vorführen, ich will hier aber nur ein besonders schlagendes Beispiel geben: das 2008 erschienene Software Studies-Lexikon von Matthew Fuller. Es ist dies ein sehr nützliches Nachschlagewerk, das Begriffe wie ‚Algorithm‘, ‚Code‘, ‚Information‘ und (ein wenig überraschend) auch ‚Analog‘ behandelt – aber gerade nicht ‚Digital‘!
Natürlich gibt es Ausnahmen, die wie immer die Regel bestätigen. Einige Autoren haben sich der Frage nach dem Digitalen angenommen und dazu Maßgebliches geleistet. Ich denke hier vor allem an Bernhard Dotzlers Papiermaschinen (1996), Bernhard Siegerts Passage des Digitalen (2003) und Robert Dennhardts Flipflop-Legende (2009). Alle drei Untersuchungen sind unverzichtbare Beiträge zur Diskussion. Aber alle drei stehen – auch wenn die Autoren selbst das vielleicht ein wenig anders sehen – eindeutig in der Tradition der technischen Diskursanalyse der Medien, in welcher Digitalität letztlich eben eine mathematisch-nachrichtentechnische Angelegenheit bleibt. Erwähnenswert ist sicherlich auch Hartmut Winklers Docuverse (1997). Von der Absicht und argumentativen Stoßrichtung her ist Winklers sprachkritisch fundierte Arbeit zur Theorie der Computer meinem eigenen Ansatz wohl am nächsten. Leider weist das Buch in dem für mich zentralen Punkt (ich werde darauf zurückkommen) jedoch eine entscheidende theoretische Schwäche auf. Insgesamt, so bleibt festzuhalten, ist Digitalität – überraschenderweise – eine Leerstelle in der medienwissenschaftlichen Literatur.
Welches sind die Gründe für diese Vernachlässigung? Die Antwort ist, so glaube ich, recht einfach: Unser wissenschaftliches, sogar unser alltägliches Verständnis „des Digitalen“ reicht für einen gelingenden Umgang mit den modernen Digitalmedien völlig aus, ja: es ist dafür nicht einmal notwendig. Die Frage nach der Digitalität digitaler Medien stellt sich überhaupt nicht erst als solche. Und das wiederum hat einen ganz praktischen Grund: In gewisser Weise funktioniert Digitalität einfach. Ihre mathematisch-technischen Definitionen und Implementierungen sind, wie wir als Benutzer eines dauernd wachsenden Maschinen- und Geräteparks täglich erleben, offensichtlich ‚richtig‘. Wer wollte bestreiten, dass Texte, Bilder und Töne seit Jahrzehnten schon von immer mehr Geräten bei immer mehr Gelegenheiten an immer mehr Orten digital gespeichert, übertragen und verarbeitet werden? Und was funktioniert, wird schnell als Selbstverständlichkeit an- und hingenommen und nicht weiter hinterfragt. (Und wenn doch einmal ein Gerät oder Dienst nicht läuft oder ‚abstürzt‘, dann nicht deshalb, weil die informatischen oder ingenieurswissenschaftlichen Konzepte digitaler Nachrichtentechnik und Informationsverarbeitung fehlerhaft wären.) Vermutlich haben medienwissenschaftliche Autoren wie Marshall McLuhan und Friedrich Kittler, aber auch jüngere wie Lev Manovich so wenig genuin medienwissenschaftliches über Digitalität zu sagen, weil Ingenieure und Mathematiker wie Claude Shannon, Alan Turing und John von Neumann ihre Arbeit so gut gemacht haben.
Die hier umrissene, bald diffuse bis gänzlich fehlende, bald mathematisch-nachrichtentechnisch verengte Bestimmung des Digitalen stellt für die Medienwissenschaft nun aber ein eminentes epistemologisches Hindernis dar. In historischen Analysen etwa führt die genannte Diskrepanz schnell zu Unstimmigkeiten und widersprüchlichen Befunden. Ich möchte das an nur an einem Beispiel – dem offensichtlichsten – kurz demonstrieren.
Einerseits wird in der Fachliteratur mit schöner Regelmäßigkeit ein durch das Auftreten des Digitalcomputers und der digitalen Nachrichttechnik herbeigeführter epochaler Einschnitt in der Medienentwicklung festgestellt, der – in historischer wie logischer Hinsicht klar und einfach zu verorten – ein nicht-digitales, zumeist als „analog“ bezeichnetes, Davor von einem digitalen Danach trennt. (Eine Trennung übrigens, die selbst nach dem Vorbild der Digitaltechnik als einer trennscharfe Unterscheidungen treffenden Praxis verfährt.) Andererseits führen Vergleiche des Schemas digitaler Codierung von Daten für Computer und moderne Informations- und Kommunikationssysteme mit früheren Techniken wie der elektrischen Telegrafie, dem Buchdruck mit beweglichen Lettern oder auch der Alphabetschrift wieder und wieder zur Einsicht, dass bereits manche älteren Medien auf gewisse Art „digital“ waren (und weiterhin sind). Wesentliche Prinzipien heutiger Digitaltechnik sind, wie es scheint, schon seit längerem am Werk. Diskretheit und Distinktheit zeichenhafter Formen bei gleichzeitiger Arbitrarität bzw. Konventionalität der Zuordnung von Form und bezeichnetem „Inhalt“ etwa zeigen sich in Schaltzuständen von Computern und logischen oder numerischen Werten genauso wie in den Graphemen jahrtausendealter Alphabete und ihren korrespondierenden Phonemen.
Damit aber wird die „Neuheit“ des Digitalcomputers und der digitalen Nachrichtentechnik, mitunter das Epochale der medientechnischen Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt, fragwürdig – solange wenigstens, als das Neue und Epochale des technischen state of the art eben darin gesehen wird, digital zu sein (und nicht vielmehr „analog“). Nun macht jedoch die Informatik seit ihren Anfängen – wirkmächtig z. B. im Argument der 1936 von Alan Turing beschriebenen allgemeinen Rechenmaschine – klar, dass nicht die digitale Funktionsweise als Spezifikum des Computers zu verstehen ist, sondern dessen (nach mathematischen Maßstäben) theoretisch universelle Programmierbarkeit. Was den Digitalcomputer zum Computer macht, ist nicht „das Digitale“, sondern – etwas umständlich formuliert – das „Algorithmisch-Automatische“. Und aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist zu betonen, dass die mediale Wirkmächtigkeit des Digitalcomputers, die Tatsache also, dass technische Vermittlungsleistungen von der Sprachübertragung über die Bildaufzeichnung bis zur Textverarbeitung heute fast in der Gesamtheit durch den Einsatz von Computern bewältigt werden, sich in erster Linie anderen Faktoren als der digitalen Codierung verdankt: vor allem der stetigen Kapazitätssteigerung, Miniaturisierung, Verbilligung, Vernetzung und vereinfachten Handhabung der Geräte nämlich. Für all das (wie auch für die universelle Programmierbarkeit) mag die digitale Funktionsweise des Computers eine notwendige Bedingung sein; keinesfalls aber ist sie eine hinreichende, wie das Beispiel der frühesten voll funktionstüchtigen Digitalcomputer der 1940er Jahre, die für keine der von PCs, Tablets oder Smartphones heute ins Werk gesetzten medialen Prozesse geeignet waren, ex negativo deutlich macht.
Wenn es aber zutrifft, dass, was gemeinhin unter dem Adjektiv digital zusammengefasst und vorrangig der Computertechnik zugeschrieben wird, nicht erst mit dem Digitalcomputer auftaucht, sondern den Gang der Mediengeschichte seit langem mitbestimmt, wie auch andererseits der wiederkehrende Verweis auf „Digitales“ weder die technische Eigenheit noch die mediengeschichtliche Bedeutsamkeit des Computers zu erhellen vermag, dann benötigen wir einen anderen Begriff des Digitalen, als er von der mathematischen Informationstheorie und im Rahmen der Nachrichtentechnik erarbeitet wurde und in dieser Form in der Medienwissenschaft gebräuchlich ist. Das soll nicht heißen – dies sei hier nochmals betont –, dass die vorherrschende Definition des Digitalen, die auf die apparative Diskretisierung und Quantisierung physikalischer Größen zielt, falsch wäre. Im Gegenteil: Sie ist ganz offenkundig ‚richtig‘ und in ihren praktischen Implementierungen, wie funktionierende Digitaltechnik ständig beweist, spektakulär erfolgreich. Für medienwissenschaftliche Analysen jedoch, die das Feld des Medialen in der ganzen Weite und Tiefe historisch wie systematisch vermessen sollen, taugt ein Konzept nicht, dessen Herkunft und, mehr noch, gewöhnlicher Gebrauch eine geschichtliche Grenzziehung nahelegen oder behaupten, die sich bei näherem Hinsehen als problematisch (wenn nicht gar falsch) erweist.
Angesichts der in verschiedenen älteren, gemeinhin als „analog“ klassifizierten Medientechniken wirksamen Prinzipien, die strukturverwandt oder gleich der Funktionsweise moderner Digitaltechnik sind, ist – so mein Vorschlag – ein Verständnis des Digitalen geboten, das die Verschiedenheit alter und neuer Medien – wenigstens hinsichtlich deren digitaler Verfasstheit – nicht so sehr bescheinigt und bekräftigt, als vielmehr auf fruchtbare Weise in Frage stellt. Gesucht ist ein Begriff des Digitalen, der die (selbstredend nicht erst von mir) vermutete fundamentale Gemeinsamkeit „alter“ und „neuer“ digitaler Medien von der Sprache bis zum Computer überzeugender herausstellt und begründet, als es die Medienwissenschaft bislang vermocht hat, und der zugleich die unbestreitbaren gravierenden Unterschiede zwischen ihnen deutlicher zu benennen hilft. Wir stehen dann vor der Aufgabe, das Digitale anders zu denken.
Um zu diesem anderen Verständnis „des Digitalen“ zu gelangen, scheint es mir ratsam, das Wort digital mit all den begrifflichen Assoziationen und Implikationen, die in seinem gegenwärtigen, von der Herrschaft der Computertechnik geprägten Gebrauch mitschwingen und sich daraus ergeben, erst einmal beiseite zu lassen. Dagegen könnte es dienlich sein, zunächst das Vokabular und die Konzepte der Wissenschaft zu bemühen, die mit der Erforschung des Mediums betraut ist, in welchem die Prinzipien, um die es mir geht, mutmaßlich zum ersten Mal aufscheinen: der Sprachwissenschaft. Denn bereits in der Sprache – der gesprochenen wie der geschriebenen – wirken fundamentale Mechanismen, die in der Funktionsweise des Computers unter ganz anderen technischen Rahmenbedingungen wiederkehren.
Was Sprache ist, bleibt eine Frage, auf welche die Wissenschaft trotz jahrhundertelanger intensiver Beschäftigung keine einfache, allgemein akzeptierte Antwort weiß. Was Sprache aber in struktureller Hinsicht auszeichnet, gerade auch vor anderen, nicht-menschlichen Zeichen- und Kommunikationssystemen, darüber besteht in der Sprachphilosophie und -theorie seit langem erstaunliche Einigkeit – jedenfalls in der Sache, wenn auch nicht unbedingt im Ausdruck: Sprache beruht, so die (freilich in Variationen) breit geteilte Ansicht von der griechischen Antike bis hin zu jüngsten Vertretern der Universalgrammatik, auf dem Prinzip der Artikulation.
Noch vor einer eingehenden (sprach-)wissenschaftlichen Erörterung und Bestimmung des Begriffs geben dessen umgangssprachliche Verwendung und Alltagsverständnis Hinweis darauf, welchen Mechanismus die Artikulation im sprachlichen Prozess aus linguistischer Sicht darstellt: Artikulation meint im gewöhnlichen Sprachgebrauch zunächst die, in der Regel lautsprachliche, Äußerung einer Aussage. Wer artikuliert, bringt mit Worten etwas zum Ausdruck, macht sich im Gesprochenen vernehmlich – und dies so, dass sie bzw. er vom Gegenüber verstanden werde, das Gemeinte also verständlich gesagt sei. Wer sich zu artikulieren weiß, kann sich „gut ausdrücken“, ist ein ausdrucksvoller Mensch mit klarer und deutlicher Rede. In dieser vorläufigen Annäherung ans Thema werden bereits zwei wesentliche Momente erkennbar, die auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Begriff der Artikulation von zentraler Bedeutung sind: Erstens ereignet sich Artikulation als sinnlich wahrnehmbares Geschehen, das folglich einen (mitunter durchaus flüchtigen) stofflichen Charakter hat. Sprache ist, wenn sie denn geschieht, immer Ausdruck in einer bestimmten Substanz. Sie muss durch die Rede aus der Sprecherin heraus „ausgedrückt“ werden, d. h. in einem Stoff (z. B. der Luft) manifest werden, darin veräußerlichte Form (in diesem Fall: hörbare Laute) annehmen. Artikulation ist also immer Formgebung in einer „Materie“. Zweitens dient eben diese Formgebung dem Ziel der Klarheit und Deutlichkeit des Ausdrucks. Die in der Substanz geäußerten Formen (die Laute der gesprochenen Rede etwa) sollen wohlgeformt und gut voneinander zu unterscheiden sein, damit durch ihre jeweilige Zusammenstellung zum Gesagten das je Gemeinte eindeutig vom Nichtgemeinten unterschieden werden könne. Der Prägnanz der stofflichen Formen der Äußerung entspricht somit die Präzision des durch die Formen bedeuteten Sinns der Aussage. Artikulation macht also in der Materie des Ausdrucks möglichst scharf formende „Einschnitte“, um so möglichst genau umrissene „Inhalte“ zu bezeichnen. Sie besteht, kurz gesagt, in Materialisierung einerseits und Differenzierung andererseits, oder – diese beiden Seiten bzw. Momente aufeinander beziehend – im Geschehen differenzierender Materialisierung. Die Artikulation ist die Gliederung des Sprachmaterials, die sich in der Rede vollzieht.
Das sprachphilosophische und -wissenschaftliche Denken der Artikulation führt diesen, im gewöhnlichen Sprachgebrauch geballt enthaltenen Grundgedanken seit der Antike und bis hinein in die jüngsten universalgrammatischen Arbeiten nach verschiedenen Richtungen hin aus. (Diese lange Denktradition unterschlägt Winkler, wenn er seine Kritik des Artikulationsbegriffs in Docuverse alleine auf Derridas Arbeiten bezieht.) In den vergangenen Jahren hat sich besonders der Berliner Romanist und Linguist Jürgen Trabant des Begriffs angenommen und ihn, vor allem mit Bezug auf Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, wieder in die Diskussion zu bringen versucht.
Ich möchte Trabants Vorbild in meinem Projekt folgen, den Begriff der Artikulation dabei aber (entgegen Trabants Verständnis) umfangslogisch über den Bereich des – im herkömmlichen Sinne – Sprachlichen hinaus verallgemeinern und von überkommenen Bezügen zu bestimmten medialen ‚Substanzen‘ (etwa der Lautsubstanz) und Funktionen (etwa der Kommunikation oder Kognition) lösen. Ich erhoffe mir davon eine überzeugende Formulierung des gesuchten weitgefassten Begriffs von Digitalität, der sowohl anschlussfähig an die bisher in der Medienwissenschaft (und in benachbarten Fächern) geführten Diskussionen von Digitaltechnik ist, als auch ein verändertes Verständnis des systematischen wie genealogischen Zusammenhangs „alter“ und „neuer“ digitaler Medien ermöglicht.
Abschließend kann ich die fünf Momente, die einen solchen medientheoretisch verallgemeinerten Artikulationsbegriff ausmachen, nur kurz umreißen.
Erstens vollzieht sich Artikulation stets in einem Medium – in einem Stoff oder einer Substanz, in welcher sie sich als Geschehen (ver-)äußert. Sie hat also notwendig eine ‚äußerliche‘, materielle Seite. (Obwohl die Materialität, wie z. B. de Saussure für die langue ausführt, von keiner bestimmten Substanz sein muss, und auch wenn manche Denkrichtungen die Materialität als für das Funktionieren der Artikulation eher nebensächlich erachten und ihr daher keine besondere Beachtung schenken). Zweitens ist Artikulation wesentlich Teilung. Sie erzeugt Formen in einem Medium, in dem sie in ein (an sich undifferenziertes) Medium mehr oder weniger dauerhafte Differenzen einführt und so einzelne Teile aussondert, die sich – gemäß einem jeweils geltenden Maßstab – hinreichend deutlich als Formen vom Medium wie auch untereinander unterscheiden lassen. (Womit ebenfalls gesagt ist, dass die Artikulation nicht beliebig viele verschiedene Formen hervorbringen kann, sondern nur eine endliche Anzahl.) Drittens unternimmt Artikulation zugleich eine Fügung des von ihr Geteilten. Sie ist analytisch und synthetisch in einem. Die im Medium artikulierten Formen (be-)stehen nicht einfach für sich allein, sondern sind – zu welchem Zweck sie eben ausgesondert und voneinander geschieden werden – gerade durch ihre Unterschiede aufeinander bezogen. (Konkret realisiert sich dieser Bezug als räumliche und/oder zeitliche Ver- und Aufschiebung der Formen zu ‚Ketten‘). Viertens konstituiert Artikulation mit der Fügung von Formen zu Ketten eine von den je für sich genommenen Formen logisch entkoppelte Ebene der Struktur – ein Vorgang, der sich auf dieser ‚neuen‘ Ebene in gleicher Weise wiederholen kann. Die Funktionsweise einer ‚komplexeren‘ Ebene lässt sich nicht auf die schiere Gegebenheit der ‚einfacheren‘ Formen, von welchen sie sich abhebt, reduzieren. (Dies entspricht letztlich dem von André Martinet sogenannten Prinzip der „double articulation“ bzw. ‚doppelten Gliederung‘.) Und fünftens geschieht all das regelhaft. Wie und welche Formen in was für einem Medium gebildet werden, welcherart sie zueinander in Bezug gesetzt werden und auf welche Weise sie eine ‚eigene‘ Ebene komplexer Formen errichten, gehorcht einem Spiel (z. B. im Kontext sprachlicher Äußerungen ‚Grammatik‘ genannt), das – nicht nur mit Notwendigkeit oder Zwangsläufigkeit – in Teilen wiederkehrende ‚Verkettungen‘ statt ganz beliebiger Aneinanderreihungen von Formen ergibt.
Zusammengenommen scheinen mir die genannten fünf Momente der Artikulation die definierenden Merkmale eines Prinzips von Digitalität zu geben, das uns die Geschichte und das System der Medien neu ordnen und erklären hilft. Sie schließen – wenn nicht in der Terminologie, so doch in der Sache – in entscheidenden Punkten an die maßgeblichen, bereits geführten Fachdiskussionen um die sogenannten Digitalmedien an, können jedoch – über diese hinaus – auch auf historisch und typologisch davon üblicherweise unterschiedene Medien(-techniken) wie gesprochene Sprachen, Schriftsysteme, den Buchdruck oder den Telegrafen angewendet werden und dabei deren Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zum Digitalcomputer klarer herausstellen, als es die bislang in der Medienwissenschaft dominierende, mathematisch-technische Auffassung digitaler Medien vermag.
Zitierweise
Heilmann, Till A.: Die Frage nach dem Digitalen, Vortrag an der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft „Spekulation“, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, 04.10.2012,
<http://tillheilmann.info/gfm2012.php>.
Till A. Heilmann (Dr. phil.) forscht am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Germanistik, Medienwissenschaft und Geschichte in Basel. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Basel (2003–2014), der Universität Siegen (2014–2015) und der Universität Bonn (2015–2021); Promotion mit einer Arbeit zum Computer als Schreibmaschine (2008); Gastwissenschaftler an der Universität Siegen (2011); Fellow-in-Residence am Obermann Center for Advanced Studies der University of Iowa (2012); Vertretung der Professur Digital Media and Methods an der Universität Siegen (2020–2021); Buchprojekt zu Photoshop und digitaler visueller Kultur (laufend). Arbeitsgebiete: Mediengeschichte; Medientheorie; Mediensemiotik; Fachgeschichte. Forschungsschwerpunkte: digitale Bildbearbeitung; Algorithmen und Computerprogrammierung; nordamerikanische und deutschsprachige Medienwissenschaft. Ausgewählte Publikationen: »Blackbox Bildfilter. Unscharfe Maske von Photoshop zur Röntgentechnischen Versuchsanstalt Wien«, Navigationen 2 (2020): 75–93; »Friedrich Kittler’s Alphabetic Realism«, Classics and Media Theoryhg. von P. Michelakis, Oxford University Press 2020: 29–51; »Zur Vorgängigkeit der Operationskette in der Medienwissenschaft und bei Leroi-Gourhan«, Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 2 (2016): 7–29; »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung«, Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2015): 35–48; »Reciprocal Materiality and the Body of Code«, Digital Culture & Society 1/1 (2015): 39–52; »Handschrift im digitalen Umfeld«, Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 85 (2014): 169–192; »›Tap, tap, flap, flap.‹ Ludic Seriality, Digitality, and the Finger«, Eludamos 8/1 (2014): 33–46; Textverarbeitung. Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine (2012); »Digitalität als Taktilität. McLuhan, der Computer und die Taste«, Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2010): 125–134.